Harninkontinenz und Beckenbodenschwäche
Harninkontinenz und Beckenbodenschwäche gehen oft miteinander einher. Es ist daher wichtig bei allen Untersuchungen und der Therapieplanung, beide Erkrankungen zu berücksichtigen und dann gemeinsam – im Beckenbodenzentrum – interdisziplinär zu behandeln. Viele neue Behandlungsverfahren haben die Wiederherstellung von Kontinenz und Beckenboden in den letzten Jahren erheblich verbessert. Vor allem wenig belastende Verfahren kommen zunehmend zum Einsatz.
Die Harnentleerung ist eine unserer wesentlichen Körperfunktionen, die auf dem Zusammenspiel von Harnblase – also dem Speicherorgan für den Harn – und dem Schließmuskel beruhen. Einfach gesprochen liegen zwei gegenläufige Aktionen nebeneinander vor: Der Blasenmuskel entspannt, während er den Harn speichert. Gleichzeitig ist der Schließmuskel angespannt, um den Urin zurückzuhalten. Kommt es zu einer Störung in diesem zunächst einfach anmutenden System, sind vielfältige und komplexe Funktionsstörungen möglich.
Ein Symptom einer solchen Blasenfunktionsstörung kann die Harninkontinenz sein. Unter Harninkontinenz verstehen wir, wenn ungewollt Urin verloren geht. Der/die betroffene Patient/in ist also nicht in der Lage, den Zeitpunkt des Wasserlassens selber zu kontrollieren. Die Internationale Kontinenzgesellschaft (ICS) definiert dies noch etwas genauer: Harninkontinenz ist ein „Zustand mit jeglichem unwillkürlichen Urinverlust, der den/die Patienten/in sozial und hygienisch belastet“. Viele urologische, gynäkologische, neurologische und diverse andere Erkrankungen können mit einer Harninkontinenz einhergehen. Dabei kann die Ursache im Bereich der Harnblase, der Harnröhre, des Harnblasenschließmuskels, der Beckenbodenmuskulatur, der Nerven oder beim Mann in der Vorsteherdrüse liegen. Wegen der Vielzahl der möglichen ursächlichen Organe ist immer eine sorgfältige, oft interdisziplinäre (also durch Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen durchgeführte) Untersuchung notwendig, um später dann die tatsächlichen Ursachen behandeln zu können.
10 – 40 % der Frauen und 3 – 11 % der Männer werden im Laufe ihres Lebens von einer Harninkontinenz betroffen sein. Allein in Deutschland sind also mehrere Millionen Menschen betroffen. Die Harninkontinenz stellt eine so häufige Erkrankung dar, dass von einer Volkskrankheit gesprochen werden kann.
Häufig entwickelt sich eine Harninkontinenz schleichend über einen langen Zeitraum, so dass zu Beginn wegen „der Geringfügigkeit“ des Problems zunächst keine Behandlung gesucht wird. Zunächst kommt es zu tröpfchenweisem Urinverlust, im Laufe der Zeit verschlechtert sich die Situation dann allmählich. Auch ist das Thema nach wie vor tabuisiert, so dass Betroffene sich oft nicht trauen, Hilfe aufzusuchen. Manchmal wird das Thema auch ärztlicherseits zu wenig ernst genommen oder damit abgetan, „das ist halt so und man muss sich damit abfinden“. Es wird hier auch von der verschwiegenen Erkrankung gesprochen. In vielen Fällen führt Harninkontinenz wegen der Befürchtung, „es könne etwas passieren und eine peinliche Situation auftreten“, dazu, dass sich die Betroffenen zurückziehen und weniger oder gar nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Angst vor Geruch und sichtbarem Einnässen sind die Hauptgründe. Nicht selten treten nach langem Leidensweg soziale Isolation und psychische Probleme auf. Dabei gibt es heute zahlreiche Möglichkeiten eine Linderung oder sogar eine Heilung der Erkrankung zu erreichen.
Die Belastungsinkontinenz ist die häufigste Form der Harninkontinenz. Hierunter versteht man den unwillkürlichen Harnverlust bei körperlicher Belastung, Niesen, Husten oder Lachen. Sie wurde früher auch als Stressinkontinenz bezeichnet.
Typischerweise berichten die Patientinnen oder Patienten über einen Urinverlust beim Husten, Niesen, Aufstehen, Treppensteigen, Sport oder Gehen. Bei Frauen tritt diese Inkontinenzform besonders nach Geburten oder bei Übergewicht auf. Beim Mann tritt die Belastungsinkontinenz eher selten auf, hier vor allem nach operativen Eingriffen an der Vorsteherdrüse oder nach Unfällen. Eine Einteilung anhand der Schwere der Erkrankung in unterschiedliche Grade der Inkontinenz hilft bei der Auswahl der diversen therapeutischen Möglichkeiten.
Hierzu zählen:
- Gewichtsreduktion bei Übergewicht
- Beckenbodengymnastik/Biofeedback
- Inkontinenzhilfen
- Vaginale oder rektale Elektrostimulationstherapie
Medikamentöse Therapien
- Lokale vaginale Östrogenanwendung
- zur Verstärkung des Schließmuskels z. B. Duloxetin (Yentreve®)
- zur Verbesserung der Blasenkapazität z. B. Solifenacin (Vesikur®), Darifenacin (Emselex®), Trospiumchlorid (Spasmex®), Tolterodin (Detrusitol®) Oxybutinin (Dridase®) oder andere
Operative Therapien:
- vaginale Band-OP (z. B. TVT, TOT etc.)
- offene oder laparoskopische Blasenhebung (OP nach Burch)
- Ballonimplantation zur Unterstützung des Schließmuskels (z. B. Pro-ACT)
- Künstlicher Schließmuskel (AMS 800)
- vaginale Wiederherstellung des Beckenbodens vorderes und hinteres Netzband (sog. MESH)
- offene oder laparoskopische Wiederherstellung des Beckenbodens durch Fixation der Scheide mittels Kunststoffnetz (Sakrokolpopexie)
Hierunter versteht man einen unwillkürlichen Urinabgang mit oder nach plötzlichem Harndrangempfinden. Die Blase meldet sich plötzlich „als komplett gefüllt“ und der Harndrang kann nicht mehr unterdrückt werden, bis die Toilette erreicht wurde. Manchmal kommt es auch bei nur wenig gefüllter Blase zum plötzlichen und unkontrollierten Harndrang und dann zum Abgang von Urin.
Bei dieser Form der Inkontinenz ist der Verschlussmechanismus der Harnröhre eigentlich intakt, jedoch liegt eine Fehlfunktion des Blasenmuskels (des Entleerungsmuskels) vor. Dabei werden Störungen der Harnblasenempfindung (Sensitivität) und das nicht-steuerbare Zusammenziehen (Kontraktionen) der Harnblasenmuskulatur unterschieden. Der Patient leidet an einem ständigen Gefühl des Harndrangs, das nicht unterdrückbar ist und zu häufigen Toilettengängen führt, wobei nur geringe Harnmengen entleert werden.
An therapeutischen Maßnahmen stehen zur Verfügung:
- Inkontinenzhilfen
- Harnblasen-/Toilettentraining
- Biofeedbacktraining
- Vaginale oder rektale Elektrostimulation
- Medikamentöse (blasendämpfende) Therapien
- Botulinum-Toxin-A-Einspritzung in den Blasenmuskel (nach erfolgloser medikamentöser blasendämpfender Therapie)
- Ggf. elektrische Stimulation bestimmter Rückenmarksnerven, wodurch eine Linderung der Beschwerden erreicht wird (nach erfolgloser medikamentöser blasendämpfender Therapie)
Mischinkontinenz: Hierunter versteht man eine Kombination aus Belastungs- und Dranginkontinenz. Die therapeutischen Möglichkeiten richten sich nach den vorherrschenden Beschwerden. Mischinkontinenz liegt ebenfalls häufig vor.
Neben der Belastungs- und Dranginkontinenz und deren Mischformen gibt es noch weitere Inkontinenzformen, die abzugrenzen sind. Dabei werden der nächtliche Urinverlust, die neurogene Inkontinenz und die Überlaufinkontinenz unterschieden.
Nächtlicher Urinverlust:
Hierunter versteht man jeglichen unwillkürlichen Urinverlust während des Schlafens, v. a. bei Kindern und Babies. Bezeichnet wird diese Inkontinenz als Enuresis.
Die therapeutischen Möglichkeiten umfassen:
- Medikamentöse Therapien
- Verhaltenstherapeutische Therapien (z. B. Klingelhose, Wasserlassen nach der Uhr)
Neurogene Inkontinenz:
Diese Inkontinenzform wird auch als Reflexinkontinenz bezeichnet. Die Ursache dieser Inkontinenzform liegt in einer Störung der blasenversorgenden Nerven oder des Rückenmarks oder des Gehirns, bei der es zu einer Fehlfunktion der Blasentätigkeit kommt (z. B. nach einem Schlaganfall oder bei einer langjährigen Zuckererkrankung). Je nachdem, wo und wie die Nerven, das Rückenmark oder das Gehirn geschädigt sind, können unterschiedliche Blasenentleerungsstörungen vorkommen (erhöhte Blasenaktivität, geringe Blasenaktivität mit Restharnbildung).
Überlaufinkontinenz
Betroffen sind vor allem Männer. Hierbei liegt häufig eine Abflussbehinderung im Bereich des Blasenausgangs vor (z. B. eine Vergrößerung der Vorsteherdrüse/Prostata). Der Blasenmuskel wird dadurch langfristig überdehnt und es kommt zum Überlaufen der Harnblase, wobei der Patient ein ständiges Tröpfeln beschreibt. Therapeutisch kommen in solchen Fällen in Betracht: Katheterisierung, ggf. in Kombination mit medikamentöser Therapie, operatives Vorgehen (z. B. Ausschabung der Prostata (TUR-P), Laserbehandlung der Prostata (GreenLight Laser)).
Des Weiteren gibt es noch situationsabhängige Inkontinenzepisoden (z. B. beim Geschlechtsverkehr oder beim Kichern).
Die Senkung (Tiefertreten) von Harnblase, Gebärmutter, Scheidenstumpf nach Gebärmutterentfernung und Enddarm kann zahlreiche Beschwerden hervorrufen.
Es kann zu einem Druckgefühl oder Schmerzen im Beckenboden kommen, viele Frauen beschreiben dies auch als Druckgefühl nach unten. Oft werden auch Rückenschmerzen angegeben. Viele Patientinnen haben unwillkürlichen Urinabgang beim Husten, Niesen oder bei körperlicher Aktivität. Auch häufige Blasenentzündungen oder chronische Verstopfung können Symptome sein.
Bei gesunden Frauen sind die Harnblase, die Gebärmutter und der Enddarm durch Bänder und Bindegewebsstrukturen im Becken elastisch aufgehängt. Alle Strukturen liegen auf dem Beckenboden, einer hängemattenartigen Muskelplatte. Alle Strukturen sind beweglich zueinander aufgehängt, so kann z. B. die Gebärmutter einer vollen Blase oder dem gefüllten Darm ausweichen.
Senken sich Harnblase, Scheide, Gebärmutter oder Darm durch Schwäche des Beckenbodens, wird von Senkung (Descensus) gesprochen. Dafür verantwortlich können Geburten, angeborene Bindegewebs- und/oder Muskelschwäche sowie Überbelastungen oder der Elastizitätsverlust in den Wechseljahren oder Fettleibigkeit sein. Von Vorfall (Prolaps) sprechen wir, wenn sich die Beckenorgane beim Pressen in den Scheideneingang vorwölben.
Zunächst findet ein ausführliches Gespräch mit dem behandelnden Urologen statt, der gezielt Fragen zu Krankenvorgeschichte, vorausgehenden Operationen, Ausmaß, Anlass und Begleitumständen unkontrollierter Urinverluste stellt.
Auch wenn die spezielle „Anamnese“ (Erhebung der Krankengeschichte) sehr wegweisend ist, sind zur sicheren Zuordnung zu einer der Erkrankungen immer Zusatzuntersuchungen erforderlich. Es folgen eine körperliche Untersuchung mit besonderem Augenmerk auf die Organe des Harntrakts (Geschlechtsorgane sowie Blase), eine Harnanalyse sowie eine Ultraschalluntersuchung. Gerade bei der Belastungsinkontinenz hat sich in der jüngsten Vergangenheit die so genannte Introitussonographie (Ultraschalluntersuchung des Scheideneingangs, der Harnröhre und des Blasenhalses) neben der Perinealsonographie als wichtige Untersuchung gemeinam mit der vaginalen urogynäkologischen Untersuchung erwiesen. Gegebenenfalls kommen spezielle Röntgenaufnahmen der Blase und der ableitenden Harnwege, eine Blasenspiegelung zum Einsatz. Die Blasendruckmessung (Urodynamik oder Videourodynamik) ist ein unverzichtbares Instrument, um die verschiedenen Formen der Harninkontinenz sicher voneinander abzugrenzen. Diese Verfahren sind meist ambulant durchführbar, in der Regel für die Patienten wenig belastend und weitgehend schmerzfrei; sie ermöglichen dem erfahrenen Urologen die Ursache der Harninkontinenz zu diagnostizieren und somit eine geeignete Therapie festzulegen.
Eine sorgfältige Diagnostik bildet die entscheidende Voraussetzung für eine optimale und individuell angepasste Therapie von Inkontinenz und Beckenbodenschwäche bzw. Senkung und Vorfall.
Die Therapie von Inkontinenz und Beckenbodenschwäche bzw. Senkung und Vorfall ist von der genauen Untersuchung und Diagnose abhängig. So ergeben sich bei Belastungsinkontinenz andere Möglichkeiten der Behandlung als bei der Diagnose Dranginkontinenz. Sollte zusätzlich noch eine Senkung vorhanden sein, muss diese unbedingt bei der Auswahl des Behandlungsverfahrens berücksichtigt werden.
Konservative Therapiemöglichkeiten
Allen Diagnosen gemeinsam ist jedoch, dass zunächst ein konservativer Therapieversuch geprüft werden sollte, d. h. ob nicht mit […]
Operative Therapiemöglichkeiten
Die Therapie von Inkontinenz und Beckenbodenschwäche bzw. Senkung und Vorfall ist von der genauen Untersuchung und Diagnose abhängig. So […]
Auf dieser Seiten finden Sie weiterführende Links zu Selbsthilfegruppen, die sich mit dem Thema Harninkontinenz und Beckenbodendefekten beschäftigen.
www.kontinenz-gesellschaft.de
www.selbsthilfeverband-inkontinenz.org
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